Die Grundlagen der Chirotherapie

    1. Das segmentale Irritationsgeschehen
    2. Indikation und Risikoausschluss
    3. Griffaufbau
    4. Grifftechnik

     

    1. Das segmentale Irritationsgeschehen

      Als wesentliches Kriterium der manuellen Diagnostik von Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates gilt das Korrelat der funktionellen Störung. Dies ist ganz wesentlich von Krankheitssyndromen abzugrenzen, welche sich durch strukturelle Veränderungen in radiomorphologischer, laborchemischer und klinischer Untersuchung darstellen. Diese Unterscheidung ist umso wichtiger, nachdem sich viele in der Literatur beschriebene Komplikationen der Chirotherapie auf eine falsche Indikationsstellung und Grifftechnik zurückführen lassen.

      Im Vordergrund der manualmedizinischen Untersuchung steht aus diesem Grunde eine eingehende Anamnese und klinische Untersuchung, welche sich auf einen fundierten und sensomotorischen Untersuchungsstatus wie auch auf eine Untersuchung der Wirbel- und Extremitätengelenke hinsichtlich ihres Bewegungsumfanges und Bewegungsspieles stützt. Die Anamnese umfaßt das Erkennen von prädisponierenden strukturellen Kausalitäten, wie Unfallmechanismen, Tumorgeschehen, Infektgeschehen und bereits erfolgten Voroperationen.

      Der besondere Stellenwert der Chirodiagnostik liegt in der Feststellung von segmentalen Irritationspunkten, die sich auf ein segmentales Irritationssyndrom zurückführen lassen. Hierbei spielt das Zusammenwirken sensorischer und motorischer Afferenzen und Efferenzen im Bereich der Vorder- und Hinterwurzel sowie des Spinalganglions eine wesentliche Rolle. Insbesondere die Arbeiten von H.D. Wolff und K. Lewit zeigen, daß die segmentale Irritation neuzeitlicher Prägung eine neurophysiologische Grundlage hat. Eine Störung der Proprio- und Nociception sowie deren Verschaltung und deren Beeinflussbarkeit durch zentralnervöse Veränderungen bedingt eine reflektorische Einschränkung des Gelenkspieles. Der Patient verspürt die Einschränkung des Gelenkspieles sowie die reflektorische Schmerzzunahme und Bewegungseinschränkung als "Blockierung" des Gelenkes. Das körperliche Empfinden des Patienten spiegelt sich deswegen sehr häufig in der vermeintlichen Vorstellung einer Verrenkung des Gelenkes oder einer Einklemmung des dazugehörigen Nervens wider. Aus diesem Grund wurden chirotherapeutische Grifftechniken in früherer Zeit mit der Einrenkung eines Wirbels und Befreiung des Nervs gleichgesetzt.

      Durch die neuzeitliche bildgebende Diagnostik einschl. Computertomographie und Kernspintomographie konnte jedoch zweifelsfrei nachgewiesen werden, daß eine Subluxations- oder Luxationsstellung des Wirbels nicht vorliegt. Allenfalls zeigen sich minimale Gelenkergüsse in den Gelenkkapselstrukturen der Wirbelgelenke, welche als anatomisches Korrelat einer reaktiven Synovitis gewertet werden können. In Verbindung mit den Untersuchungen von H.D. Wolff, H.P. Bischoff und K. Lewit spielt eine biokybernetische Steuergröße die übergeordnete Rolle.

      Aufgrund des gestörten Reflexverhaltens und den Schaltmechanismen zwischen Hinterhorn und Vorderwurzel, welche über die Kommissurenbahnen mit dem zentralen Nervensystem in Verbindung stehen, wie auch dem sinuvertebralen Nervengeflecht und dem Ramus dorsalis und Ramus lateralis des Spinalnervens leiten sich Tonuserhöhungen in der Muskulatur wie auch dem Bindegewebe ab. Durch die Chirodiagnostik ist es möglich, über das Ertasten von segmentalen Irritationspunkten, welche sich als Induration an definierten Stellen aufsuchen lassen, Rückschlüsse über die Segmenthöhe des Irritationsgeschehens zutreffen. Über die segmentale Irritationspunktdiagnostik ist eine funktionelle Zuordnung des gestörten Gelenkspiels möglich. Der Chirotherapeut unterscheidet zwischen einer Kyphosierungs- und Lordosierungs- wie auch einer Rotationsempfindlichkeit des gestörten Gelenkspiels. Nach erfolgter Chirodiagnostik und dem Ausschluß einer strukturellen Ursache, welche per definitionem keine Indikation zur Chirotherapie darstellt, erfolgt die manualtherapeutische Beeinflussung des Reflexgeschehens über definierte Griffeinstellungen.

      Ziel der Chirotherapie ist, dieses Reflexgeschehen über Ausnützung von kompetitiven Hemmungsmechanismen zur Reversion zu bringen. Damit gliedert sich die Chirotherapie neben der Akupunktur und der Neuraltherapie als wesentlicher Stützpfeiler der Reflextherapie ein, wobei über die gezielte Reizung von Gelenkkapselstrukturen kompetitive Hemmungsmechanismen über die Proprio- und Nociception genutzt werden. Legt man die fundamentalen Arbeiten von H.D. Wolff, der sich mit den neurophysiologischen Grundlagen der manuellen Medizin eingehend beschäftigt hat, zugrunde, so ist das segmentale Irritationsgeschehen nicht als unisegmentales Geschehen aufzufassen, sondern vielmehr als multisegmentale Funktionsstörung, wobei sich segmentale Irritationen nicht nur auf eine Wirbelhöhe zurückführen lassen, sondern biokybernetische Regelkreise beeinflussen und somit das ganze Stütz- und Bewegungsskelett betreffen. Somit erklärt sich auch, daß bei einer persistierenden segmentalen Irritation cervical sich durchaus ein chronisches Lumbalsyndrom ableiten kann. Ebenso ist über eine reflektorische Verkürzung der Rectus femoris-Muskulatur bei einer segmentalen Irritation des Kreuz-Darmbeingelenkes ein persistierendes femoropatellares Schmerzsyndrom erklärbar und therapierbar.

      Durch die neurophysiologische Auffassung der Chirotherapie ist das Griffverhalten deutlich verändert worden. In neuzeitlicher Auffassung wird bei der Griffeinstellung, der Spannung und des Impulses der passive Bewegungsumfang der Gelenke nicht überschritten. Vorstellungen, in denen der Impuls in den sogenannten paraphysiologischen Raum, einem fiktiven Gelenkraum, welcher zwischen den endgradigen passiven Bewegungsumfang unter Destruktion angesiedelt wurde, sind obsolet.

      Nach F. Th. Becker erfolgt die Griffeinstellung der für die Manipulation entscheidenden Spannung aus der Mittelstellung des Wirbelsegmentes, wobei durch die Spannungsaufnahme sowie dem kontrollierten Impuls der passive Bewegungsumfang niemals überschritten wird. Nach Untersuchungsergebnissen der Deutschen Gesellschaft für Chirotherapie e.V. und der WGCH e.V. ist mit der Griffeinstellung und der manualtherapeutischen Lehre von F.Th. Becker eine komplikationslose Technik der Chirotherapie gegeben.

      Nach einer 1997 veröffentlichten Literaturstudie von D.A. Szabela von der Abteilung Neurochirurgie, Medizinische Akademie Lodz, liegt die Komplikationsrate bei 1 : 100 000 bei der Manipulation der HWS. Nachdem aus der Studie ersichtlich ist, daß selbst noch Grifftechniken impliziert wurden, welche nach Auffassung der Deutschen Gesellschaft für Chirotherapie gefährlich sind, war das Appoplexrisiko bei 0,001 % und für eine tödliche Komplikation bei 0,00025 % angesiedelt.

      Eine korrekte Indikation zur Chirotherapie wie auch eine standardisierte Grifftechnik aktueller Prägung ist in der Lage, die oben angegebenen Zahlenwerte noch deutlich zu unterschreiten. Ziel der Ausbildung ist es, eine standardisierte und reproduzierbare Technik zu vermitteln. Das intensive Üben der Grifftechnik unter fortwährender praktischer Anleitung ist hierbei unabdingbar.

      Der Griffaufbau gliedert sich allgemein gültig in die Lagerung, die Kontaktaufnahme, die Spannung, den Probezug und abschließend den in Weichtechnik geführten Impuls.

      Bei der Lagerung wird der Patient so eingestellt, daß der Therapeut aus einer standardisierten Position das Gelenkspiel des Patienten dergestalt fixiert, daß anschließend über die Aufnahme des Kontaktes Spannung aufgebaut werden kann. Zur Vermeidung ungewollter Komplikationen erfolgt aus der Spannung über den Probezug die Prüfung des weichen und federnden Gelenkspiels, wobei der Widerstand des Gelenkes nicht überschritten wird. Bei aufrecherhaltener Spannung erfolgt bei der Mobilisation die weiche rhythmische Verstärkung dieser Spannung. Die Manipulation als wirksame Therapiemaßnahme bei segmentalen Irritationen der Wirbelsäule ist als kurze impulsartige Verstärkung der Spannung definiert.

       

    2. Indikation und Risikoausschluss

      Indikation zur Chirotherapie ist die funktionelle reversible Störung der Steuerung des Gelenkspiels mit einer konsekutiven und reflektorischen schmerzhaften Symptomenbildung. Vor dem gezielten chirotherapeutischen Vorgehen hat eine gewissenhafte Anamnese und klinische Untersuchung zu stehen, die gewährleistet, Risiken auszuschließen und strukturelle Veränderungen am Wirbelsystem zu erkennen.

      Ist anamnestisch ein Trauma gegeben, so ist in der klinischen Untersuchung die radiomorphologische Diagnostik unumgänglich. Sollte sich aus einer nativradiomorphologischen Diagnostik kein ausreichender Hinweis ergeben, so ist die weitergehende Diagnostik, welche die Skelettszintigraphie wie auch die Computertomographie oder Kernspintomographie einschließt, zur sicheren Abgrenzung ebenso zu fordern wie eine laborchemische Untersuchung, welche neben dem Differentialblutbild auch die Entzündungsmediatoren einschließlich des C-reaktiven Proteins (CRP) beinhaltet.

      Besonderen Stellenwert gewinnen Funktionsaufnahmen der Wirbelsäule in Flexion/Extension wie auch in Lateralflexion, um segmentale Instabilitäten aufzudecken.

      Entzündliche bakterielle, virale und parainfektiöse Veränderungen des Skelettsystems stellen ebenfalls einen Bereich der Kontraindikation dar, welcher sich über die bildgebende Diagnostik und die laborchemische Untersuchung deutlich eingrenzen läßt.

      Hier wird auf die Skelettszintigraphie verwiesen, welche eine sehr sensitive Untersuchung darstellt. Die Auswertung des Differentialblutbildes wie auch weitergehende infektionsserologische Untersuchungen dienen der Abgrenzung reaktiver Arthritiden.

      Dies umfaßt auch die Eingrenzung tumorbedingter Veränderungen am Stütz- und Bewegungsskelett, welche neben der Tumoranamnese und der radiomorphologischen wie laborchemischen Untersuchung die Kernspintomographie in besonderem Maß hervorhebt. So zeigt sich z.B. bei einigen Plasmozytomvarianten weder eine wesentliche nativröntgenologische Veränderung noch eine skelettszintigraphische Veränderung.

      Eingebrachte Endoprothesen und Fixationssysteme stellen in Höhe der betroffenen Extremität oder des Wirbels (ventrodorsale Spondylodesen, interne Fixateursysteme) ein erhöhtes Risiko dar, benachbarte Bewegungssegmente sind dagegen häufiger Sitz segmentaler Irritationssyndrome.

      Eine Besonderheit ist die rheumatoide Arthritis, die nicht nur im Hinblick auf die Mobilisation und Manipulation an der HWS eine besondere Vorsicht gebietet. Es wird hier ausdrücklich auf die besondere Gefährdung des atlantoaxialen Übergangs bei der atlantoaxialen Instabilität der oberen Kopfgelenke hingewiesen.

      Bei unklarem Schwindel ist die Beteiligung der Arteria vertebralis und Arteria carotis über Dopplersonographie, DSA und zunehmend MR-Angiographie abzuklären.

    3. Griffaufbau

      Die Chirotherapie unterscheidet zwischen Mobilisations- und der Manipulationstechnik.

      Die Mobilisation der Extremitätegelenke erfolgt aus gehaltener Mittelstellung in weicher, rhythmischer und federnder Spannungsverstärkung. Hierbei wird aus einer aufgebauten Grundspannung, welche bis zu dem federnden Gelenkwiderstand reicht, in amplitudenartiger Technik das Bewegungsspiel unter Ausnutzung induzierter Anregung der muskulärer und arthroligamentären Rezeptoren erweitert und funktionelle Schmerzbahnen beeinflußt.

      Die Manipulation als Therapieform der Wirbelsäule wird durch eine konzentrierte Verstärkung der Körperspannung ausgeführt. Die Spannungsverstärkung entspricht im Verhältnis zur aufgebauten Spannung einer Spannungssteigerung von zehn Prozent. Auch hierbei gilt als wesentlicher Bestandteil der Therapieform, daß der natürliche passive Bewegungsspielraum nicht überschritten wird.

    4. Grifftechnik

      Die schriftlich und fotografisch dargestellten Diagnostik- und Grifftechniken
      haben sich in langjähriger klinischer und praktischer Tätigkeit bewährt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die einschlägigen Griffe bewußt ausführlich beschrieben und in ihrem Griffaufbau demonstriert.

      Es gibt derzeit eine Vielzahl von Griffen, von denen ein Großteil als Reservegriffe bei ungenügender Technik der essentiellen Griffe gelten mögen. Daher ist es sinnvoller, die spezifischen Griffe durch einen vermehrten Ausbildungsaufwand zu vermitteln, als eine unüberschaubare Zahl von Griffen zu demonstrieren, die in ihrer komplexen Fülle die Grundlagen einer standardisierten sachlich reproduzierbaren Grifftechnik behindern.

      Zudem hat sich aus langjähriger Kurserfahrung gezeigt, daß die Konzentration auf die Ausführung der nachfolgenden Griffe den vorgegebenen Zeitrahmen durch die Bundesärztekammer mehr als ausfüllt und langfristig bis zum Examenskurs eine praxisorientierte Ausbildung hinterläßt, die zu einer vollständigen Bewältigung aller in der Praxis auftretenden chirotherapeutischen Problemstellungen führt. Spezialgriffe, welche im folgenden Manual nicht dargestellt werden, sind für den erfahrenen Chirotherapeuten gedacht und werden je nach Leistungsstärke des Examensabschlusses mit in den Abschlußkurs und Qualitätssicherungskurs aufgenommen.